"Gott nahe zu sein ist gut für mich ..."  Psalm 73,28




 

Bewährungsfeld Liebe. Predigt über Matthäus 5,38-48 am 21.Sonntag nach Trinitatis
Jesus sagte: Ihr habt gehört, dass gesagt ist: »Auge um Auge, Zahn um Zahn.« Ich aber sage euch, dass ihr nicht widerstreben sollt dem Bösen, sondern: Wenn dich jemand auf deine rechte Backe schlägt, dem biete die andere auch dar. Und wenn jemand mit dir rechten will und dir deinen Rock nehmen, dem lass auch den Mantel. Und wenn dich jemand eine Meile nötigt, so geh mit ihm zwei. Gib dem, der dich bittet, und wende dich nicht ab von dem, der etwas von dir borgen will. Ihr habt gehört, dass gesagt ist: »Du sollst deinen Nächsten lieben« und deinen Feind hassen. Ich aber sage euch: Liebt eure Feinde und bittet für die, die euch verfolgen, auf dass ihr Kinder seid eures Vaters im Himmel. Denn er lässt seine Sonne aufgehen über Böse und Gute und lässt regnen über Gerechte und Ungerechte. Denn wenn ihr liebt, die euch lieben, was werdet ihr für Lohn haben? Tun nicht dasselbe auch die Zöllner? Und wenn ihr nur zu euren Brüdern freundlich seid, was tut ihr Besonderes? Tun nicht dasselbe auch die Heiden? Darum sollt ihr vollkommen sein, wie euer himmlischer Vater vollkommen ist.
Die Bibel nach Martin Luthers Übersetzung, revidiert 2017, © 2016 Deutsche Bibelgesellschaft, Stuttgart.
Wie geht Christsein im Alltag? Könnten die Worte aus der Bergpredigt heute eine Antwort sein auf diese Frage? Wenn dem so wäre, würden sie wenigstens mir das Leben im Alltag  zunächst deutlich erschweren. Die üblichen Verhaltensmuster, die wir gelernt haben, die wir tagein tagaus anwenden, fallen bei Jesus alle durch. Sie werden mit einem „ich aber sage euch“ regelrecht abgeschmettert. Jesus fordert zu einem komplett anderem Verhalten auf, einem Verhalten, das sich  deutlich von dem unterscheidet, was wir für normal und selbstverständlich ansehen. Schon die erste Forderung steht im kompletten Widerspruch zu dem, was heute allgemein angesagt ist. „Ich aber sage euch, dass ihr nicht widerstreben sollt dem Bösen, sondern: Wenn dich jemand auf deine rechte Backe schlägt, dem biete die andere auch dar …“ Ich denke bei diesen Worten an die vielen Krisenherde in der Welt, vor allem aber an den langen Krieg vor unserer  eigenen Haustür. Was war die Konsequenz? Die Militärausgaben wurden erhöht und Länder, die bisher stolz auf ihre Neutralität waren, bitten um Aufnahme in das westliche Militärbündnis. Es kann eben der frömmste nicht in Frieden leben, wenn es dem bösen Nachbarn nicht gefällt, sagt der Volksmund und die Nachrichtenlage scheint ihm recht zu geben.
Die anderen Forderungen sind auch nicht leichter zu erfüllen. „Wenn jemand mit dir rechten will und dir deinen Rock nehmen, dem lass auch den Mantel,“ sagt Jesus. Seine Worte richteten sich zunächst einmal an  Menschen, für die der Mantel geradezu lebensnotwendig war. Er bot gerade den Ärmeren oft den einzigen Schutz, vor allem in den kalten Nächten. Deshalb durfte ein Mantel in einem Verfahren auch nicht gepfändet werdet. Wer aber den Mantel freiwillig hergibt, der setzt sich schutzlos der Kälte aus, steht nackt da. Ihm bleibt dann nur noch die Hoffnung auf Nachsicht durch den Kläger, auf seine Barmherzigkeit. Er liefert sich dem anderen aus. Will Jesus das wirklich auch von uns? „Und wenn dich jemand eine Meile nötigt, so geh mit ihm zwei,“ hören wir ihn weiter sagen. Die feindlichen Römer hatten sich als Besatzer des Heiligen Landes das Recht herausgenommen, einen Einheimischen kurzfristig für den Weg einer Meile als Lastenträger zu requirieren. Jetzt verstehen wir auch, warum Simon von Kyrene so ohne weiteres gezwungen werden konnte, den Kreuzbalken für Jesus auf dem Weg nach Golgatha zu tragen. Das war geltendes Recht der Stärkeren. Und es war ein Eingriff in die persönliche Freiheit. Wer sich ihm widersetzt, konnte hart bestraft werden. Jesus sagt nicht, verweigert euch. Protestiert gegen das Unrecht. Sagt nein zu euren Unterdrückern. Vielmehr fordert er auf, das Unrecht zu entkräften, indem die Zwangsmaßnahme überboten wird. Tragt  das Gepäck für den römischen Soldaten zwei Meilen tragen, statt nur eine.
Wir hören heute also eine Menge Forderungen, an denen wir im Grunde tagtäglich scheitern. Und doch sollen uns diese Worte Evangelium sein, eine Botschaft, die Freude auslösen will und nicht Bestürzung oder Ratlosigkeit. Wo begegnet mir heute dieses Evangelium? Das Wort, das mir das Evangelium aufschließt, heißt Liebe. In dieser Welt in der Gute und Schlechte miteinander leben, in dieses System aus Gewalt und Macht sollen wir die Liebe hineintragen. Die Welt ist das Übungsfeld und die Bewährungsprobe für die Liebe zum Nächsten. Der Nächste ist nicht immer der Sympathische, schon gar nicht der Gute, bei dem es uns leicht fällt. Es ist der, mit dem wir uns schwer tun und der es uns zuweilen schwer macht. Ich möchte Sie zu einem kleinen Gedankenexperiment einladen. Wenn Ihnen ein Mensch über den Weg läuft, den Sie einfach nicht leiden können oder über den Sie sich ärgern, dann segnen sie ihn. Er muss es nicht einmal hören.  Es ist ja ein Gedankenexperiment. Sagen Sie still aber von Herzen, Gott segne dich. Und wenn Sie es schaffen und noch eins draufstehen wollen, sagen Sie: Gott segne dich, mein Bruder, meine Schwester. Und wundern Sie sich nicht, wenn sich nicht gleich alles ändert.Ich glaube, zunächst einmal wird dieses Segenswort Sie selbst ändern. Es wird Ihre Einstellung ändern. Es wird Ihren Blick ändern. Wenn man jemanden gesegnet hat, fällt es schwer, ihm Böses zu wünschen. Sie werden merken, dass Zorn, Wut, Ärger sich wandelt. Nicht unbedingt den andern, sondern zunächst einmal einen selbst. Es wird mir der Zeit nicht mehr so wichtig, immer recht zu behalten. Ich kann den Feind nicht dazu bringen, mich zu lieben. Aber ich kann mich selbst dazu bringen, ihn nicht mehr zu hassen. Wie geht Christsein? Durch nichts anderes als durch Liebe.
Die Beispiele, die Jesus bringt verstehe ich deshalb nicht als Vorbedingungen, die erfüllt sein müssen, damit ich Christ bin und damit für mich das Tor zum Reich Gottes aufspringt. Es sind vielmehr die Folgen, die Konsequenzen, die sich aus der Haltung der Liebe ergeben. Es geht darum, in der Liebe verwurzelt zu sein.  Wenn wir auf unser Leben schauen, müssen wir wahrnehmen, wie weit wir von dieser Liebe als Lebenshaltung entfernt sind. Sie richtet sich aus auf die Liebe Gottes, die in uns Wohnung nehmen will. Sie verbindet uns mit dem, der die Liebe in Person ist. Jesus war stark genug, Teufelskreise zu durchbrechen. Zu einem Leben in seiner Liebe sind wir eingeladen. Zu dieser Liebe sollen wir ermutigt werden, selbst, wenn wir mit unseren Anläufen immer wieder scheitern. Gott ist die Liebe, sagt Johannes. Von seiner Liebe kommt die Kraft zu einem Leben, dem es gelingt, über Schatten oder, biblisch gesprochen, über Mauern zu springen. Das kann ich aber nur, wenn ich selbst diese Liebe erfahren habe, wenn ich mich ihr öffne. Vergeben kann ich nur, wenn ich selbst Vergebung erfahren habe. Wie geht Christsein, wie nimmt es Gestalt an in dieser Welt? Es geht nur durch Liebe, die wir  empfangen und weitergeben.
Sie wird mir Mut machen, über mich selbst hinaus zu wachsen. Sie macht uns Mut, im Alltag Liebe zu üben und immer wieder die kleinen Teufelskreise zu durchbrechen, die unser Leben erschweren und die sich summieren. Zu dieser von Liebe getragenen Lebenshaltung will uns Jesus Mut machen. Sind die Worte Jesu also nur für den Hausgebrauch gedacht, nur für den internen Gebrauch im Leben der Gemeinde, aber nicht in der großen Politik? Es mag banal klingen, aber große Veränderungen beginnen im Kleinen, im persönlichen Leben, in der Schulung des Herzens, in der Wahl der Mittel und der Worte im Alltag. Wir prägen die Welt, indem wir sie gestalten. Es ist so wie in dem Lied, das sich so viele Eltern wünschen, wenn sie ihr Kind zur Taufe bringen: „Ins Wasser fällt ein Stein, ganz heimlich, still und leise, und ist er noch so klein, er zieht doch weite Kreise. Wo Gottes große Liebe, in einen Menschen fällt, da wirkt sie fort, in Tat und Wort, hinaus in unsre Welt….“ (EG 645) Das ist unsere Aufgabe, dass wir die Liebe hineinwerfen in diese Welt, damit sie sich ausbreiten kann.
Wenn wir im Alltag unseren Glauben liebevoll leben, ändern wir die Welt, bereiten wir dem Reich Gottes den Boden. Wir stürzen die Machthaber nicht vom Thron. Aber das verlangt Jesus auch nicht. Er sagt sogar, dass wir dem Bösen nicht widerstreben sollen. Was wir ihm aber entgegen setzen sollen, das ist die Liebe. Wie muss sich ein römischer Soldat gefühlt haben, wenn der Mann, den er vielleicht mit gezogenem Schwert gezwungen hat, eine Meile zu gehen, freiwillig eine zweite drauf legt? Vielleicht staunt er und wird nachdenklich. Dass Menschen nachdenklich geworden sind, verschweigt die Bibel nicht. „Wahrlich, dieser ist Gottes Sohn gewesen,“ sagt der Hauptmann unter dem Kreuz. Was hat ihn dazu gebracht? Wagen wir es zu lieben, dort, wo wir leben. Segnen wir, wo andere fluchen oder streiten. Ich glaube fest, dass Jesus dann dabei ist. Wenn wir scheitern, wissen wir, dass der Knecht nicht über dem Herrn steht. Der Knecht vertraut dem Herrn. Zum Glauben gehört das Vertrauen auf ihn, das Vertrauen darauf, dass er uns geben wird, was wir brauchen, um dieser Liebe ein Gesicht im Alltag zu geben. Zum Glauben gehört aber auch das Vertrauen, dass er weiter am Werk ist, selbst wenn wir scheitern und an unsere Grenzen stoßen. Amen.
© Pfarrer Stefan Köttig, 20.10.224