"Gott nahe zu sein ist gut für mich ..."  Psalm 73,28




 

Worauf es ankommt. Predigt über Galater 3,26-29 am 17.Sonntag nach Trinitatis
„Der kommt ganz nach seinem Vater,“ sagt die stolze Oma strahlend, während sie sich über den Kinderwagen beugt. „Die Nase, das Kinn, ganz der Papa…“ Da ist sie sich sicher,  der Bub ist ihrem eigenen Sohn wie aus dem Gesicht geschnitten. „Also ich finde das ganz und gar nicht,“ sagt die andere Oma. „Ich finde, der kommt mehr nach unserer Familie, ganz eindeutig. Die roten Backen und die Augen, ganz wie die Buben bei uns eben ausschauen …“ Gerade einmal zwölf Wochen ist der Junge erst auf der Welt und schon wird darüber debattiert, was er genau von wem hat. Die jungen Eltern sind von den Vergleichen inzwischen genervt, die von den älteren Familienmitgliedern angestellt werden. Für sie spielt es keine Rolle, was ihr Kind von wem geerbt hat. Sie freuen sich einfach, dass es da ist, ihr Kind. Für seine Familie kann der arme Junge ja nichts, sagen sie und lachen. Recht haben sie. Wir sollten vorsichtig sein, wenn wir nach Ähnlichkeiten forschen. Mag sein, dass es Dinge gibt, die erbt man, die Nase vom Vater, die Ohren oder die Haare von der Mutter, den Humor oder den Missmut von Opa Franz oder Tante Anna. Manches übernimmt man aber auch, mehr oder weniger freiwillig, die Kultur, die Sitten und Gebräuche und wenn es nur die sind, die das eine Dorf vom anderen unterscheiden. Wir sind wir. Dagegen kann man sich nicht wehren, außer, indem man wegzieht, den Kontakt einschränkt oder abbricht, irgendwo anders einen Neustart wagt, bis man eben merkt, dass sich auch dort der Großvater oder die Mutter in einem bemerkbar machen.
Von einer besonderen Art der Verwandtschaft hören wir heute und davon, woran man sie erkennt. Um es gleich zu sagen, es sind nicht die Gene, auf die es ankommt, jedenfalls nicht, wenn man auf  den Apostel Paulus hört. Im Brief an die Galater schreibt er:
„Denn ihr seid alle durch den Glauben Gottes Kinder in Christus Jesus. Denn ihr alle, die ihr auf Christus getauft seid, habt Christus angezogen. Hier ist nicht Jude noch Grieche, hier ist nicht Sklave noch Freier, hier ist nicht Mann noch Frau; denn ihr seid allesamt einer in Christus Jesus. Gehört ihr aber Christus an, so seid ihr ja Abrahams Nachkommen und nach der Verheißung Erben.“
(Die Bibel nach Martin Luthers Übersetzung, revidiert 2017, © 2016 Deutsche Bibelgesellschaft, Stuttgart.)
Die Galater! Das waren ehemalige Heiden, die in der der römischen Provinz Galatien gelebt haben, also auf dem Gebiet der heutige Türkei. Wer den ganzen Brief liest, zieht den Kopf ein. Paulus hält den Christen eine Standpauke, die sich gewaschen hat. Die Galater waren drauf und dran, ihre neuerworbene Freiheit im Glauben zu verlieren. Kinder Gottes zu sein durch den Glauben an Christus, das war für sie etwas anderes, etwas vollkommen Neues. Kinder Gottes zu sein, das bedeutete,  endlich frei zu sein. Die alten Götter waren in der Regel launisch und mussten durch Opfer gnädig gestimmt werden. Es hatte dabei kaum eine Rolle gespielt, ob man germanische, römische oder griechische Götter verehrt hatte. Heidnische Götter waren  oft grausam, forderten Opfer, gelegentlich auch Menschenopfer. Wie befreiend musste das Evangelium gewesen sein, dass Paulus  den Galatern verkündet hatte. Ihr seid Gottes geliebte Kinder. Ihr seid frei! Ihr müsst euch nicht mehr fürchten.
Doch dann drohte der Rückfall in alte Gewohnheiten oder Ängste. Es waren ausgerechnet christliche Missionare, die gekommen waren, um neue Saiten aufzuziehen. So frei, wie Paulus meint, seid ihr gar nicht, sagten sie. Wenn ihr zum Volk Gottes gehören und wenn ihr wirklich erlöst werden wollt, müsst ihr schon das Gesetz des Mose befolgen, müsst euch beschneiden lassen,  ihr müsst die ganzen Vorschriften einhalten und darüber hinaus bestimmte Feste und Feiertage befolgen. Als Paulus davon erfährt, ist er stinksauer. „O ihr unverständigen Galater, wer hat euch verblendet,“ schreibt er an einer anderen Stelle. Trotzdem ist seine Liebe zu diesen Menschen stärker als der Ärger oder die Enttäuschung. Schließlich hat er die Gemeinden dort gegründet. Da sind väterliche Gefühle nur allzu verständlich. Deshalb erinnert er sie daran, dass sie Kinder des einen Gottes sind. „Es spielt keine Rolle, ob ihr Juden oder Christen seid, sagt er, ob ihr aus Galatien stammt oder aus einer anderen römischen Provinz, es spielt keine Rolle, welche Sprache ihr sprecht, ob ihr Freie seid oder Sklaven, ob ihr Männer oder Frauen seid, ihr seid Kinder Gottes“, schärft er ihnen ein. Wenn wir eine Vorstellung bekommen, wie provokant das in den Ohren der Menschen damals geklungen hat, müssen wir das nur auf unsere Verhältnisse übertragen. Es spielt keine Rolle, ob ihre Deutsche seid oder Franzosen, Engländer oder Spanier, es spielt keine Rolle, ob ihr Juden oder Christen oder Moslem seid, es spielt keine Rolle ob ihr Syrer seid oder aus dem Iran kommt, es spielt keine Rolle, ob ihr blonde oder dunkle Haare habt, blaue oder braune Augen, ihr seid alle Kinder Gottes durch den Glauben an Jesus Christus. Gott liebt euch. Nicht, weil ihr irgendwelche Gesetze oder Vorschriften erfüllt oder weil ihr so gut seid, so perfekt, nicht weil ihr alles richtig macht im Leben. Gott liebt euch, weil ihr an seinen Sohn glaubt. Dieser Glaube hebt die Grenzen auf, die Menschen ziehen, der Glaube macht euch eins. Der Glaube an Jesus Christus macht uns zu Kindern Gottes. Darauf kommt es an, nicht auf die Herkunft, nicht auf die Kultur, nicht auf die Bildung oder auf den Familienstand. Wer getauft ist, wird in die Familie Gottes aufgenommen. Das Taufwasser löscht die Grenzen aus, die Menschen vorher gezogen haben. Deshalb stimmt es mich traurig, dass gerade wir Christenmenschen immer wieder an Grenzen festhalten, die doch überwunden sein sollten. Dass wir Christen immer noch uneins sind, nicht an einen Tisch treten, gemeinsam das Brot brechen, steht meiner Meinung nach im Widerspruch zu dieser Erfahrung. Worauf schaut Gott, wenn er uns sieht? Er schaut auf das, was wir im Herzen tragen. Er schaut auf unseren Glauben. Paulus verwendet dazu ein Bild. Er sagt, ihr habt Christus angezogen, durch die Taufe geschieht das. Der Glauben an Christus ist wie ein Gewand, das ich gar nicht mehr ausziehen möchte, weil ich mich darin wohl fühle. Christus angezogen zu haben bedeutet, eng mit ihm verbunden zu sein und im Vertrauen auf ihn so zu leben, wie er es uns gezeigt hat. Es ist die gelebte Liebe, auf die es ankommt, auf Güte und Barmherzigkeit, auf Demut und Vertrauen. Wenn wir wissen wollen, wie das Gewand aussieht, das wir tragen sollen, müssen wir nur die Seligpreisungen lesen.
Vielleicht denken wir daran, wenn wir auf unsere Mitmenschen schauen, wenn wir sie beurteilen, bemessen. Vielleicht müssen wir das wieder lernen, uns neu aneignen, uns immer wieder daran erinnern, dass der andere, die andere mir Bruder und Schwester ist, dass wir alle die Kleider Christi tragen, dass wir alle Gottes geliebte Kinder sind. Es mag so vieles geben, was uns voneinander unterscheidet. Am Ende kommt es doch nur darauf an, wie Gott uns sieht. Er sieht liebevoll auf uns, als seine geliebten Kinder. Wie sehen wir uns? Als Nachbarn, als Konkurrenzen oder gar als Feinde? Oder als Schwestern und Brüder des Herrn, der alles auf sich genommen hat, damit wir sein können, wozu wir bestimmt sind, Schwestern und Brüder Jesu, Kinder Gottes, vereint durch die Taufe, Teil einer großen Familie. Amen.
© Pfarrer Stefan Köttig, 22.9.2024